Die Welt ist ein Wartesaal


Ich hatte mich daran gewöhnt, daß mir mit fortschreitendem Alter peu à peu sämtliche Rechte entzogen wurden: Ich hatte plötzlich nicht mehr das Recht auf Straffreiheit, die Deutsche Bahn nahm mir den Juniorpaß weg, und im Restaurant wurde ich rüde abgewiesen, wenn ich mir den "Kinderteller Pinocchio" bestellen wollte. Das waren einschneidende Erlebnisse, aber richtig traurig wurde es, als ich zu meinem 30. Geburtstag eine Lebenszwischenbilanz zog. 

Wo waren diese dreißig Jahre geblieben, womit hatte ich sie verplempert? Die Antwort war erschütternd: Mit Warten.

Erst wartete ich auf den ersten Schultag und danach auf den letzten. Dann auf einen Studienplatz. Damit waren schon mal 18 Jahre futsch. Blieben noch 12 Jahre abzüglich eines Schlaf-Pauschbetrags von 4 Jahren, also 8 Jahre. Diese habe ich ebenfalls verwartet. Denn unsere Lebenszeit wird zu hundert Prozent absorbiert von den kleinen alltäglichen Wartereinen. 

Die Wissenschaft sollte mal errechnen, wieviel Zeit zum Beispiel ein durchschnittlicher 30jähriger damit verbracht hat, an einer Bushaltestelle zu warten. Wochen? Monate? Morgens warten wir darauf, daß der Kaffee durchgelaufen ist, wir warten auf die Post, auf Anrufe; wir warten darauf, daß die Ampel grün wird, und falls nicht, warten wir auf die Ambulanz. Wir warten im Supermarkt an der Kasse darauf, daß die Oma vor uns die Groschen zusammengekratzt hat, um ihren Quark zu bezahlen, der laut Etikett auch schon ziemlich lange im Kühlregal gewartet hat. Aber grämen wir uns nicht. Wahrscheinlich ist selbst der Dreißigjährige Krieg tatsächlich kein soo dickes Ding gewesen, wie es die Historiker uns weismachen wollen. Dreißig Jahre lang Krieg rund um die Uhr? Von wegen: "Was macht Ihr denn hier?" "Wir warten auf die Schweden."

Wenn man klein ist, wartet man auf das Christkind, und wenn man groß ist, auf Godot. Die Welt ist ein riesiger Wartesaal. Und ich warte jetzt auf meinen Sechzigsten. Dann gehe ich schnurstracks zum Bahnhof, schieße mir einen Seniorenpaß und feiere das Ereignis bei einem guten Seniorenteller "Freund Hein".

Simone Borowiak, 34 in SPIEGEL SPECIAL 2/1999